Auf den Spuren der Eiszeit

Wie das natürliche Pflanzenkleid der Winterthurer Landschaft ohne das Zutun des Menschen heute aussehen würde, darüber wissen wir recht gut Bescheid. Über weite Flächen würde sich hier ein Laubwald ausbreiten, der von der Buche beherrscht wäre. Nur auf extrem trockenen, nassen, sauren oder basischen Standorten müsste die Buche anderen Baumarten Platz machen. Jenen Baumarten, die auf die jeweiligen Verhältnisse spezialisiert und damit gegenüber der Buche konkurrenzfähiger sind.

Auch davon, wie die Gegend um Winterthur vor einigen hundert Jahren ausgesehen hat, können wir uns dank historischer Dokumente, Gemälde und Stiche eine relativ genaue Vorstellung machen. Wie aber hat unsere Landschaft vor längerer Zeit ausgesehen – zum Beispiel vor 10 000 Jahren, als es bei uns noch keine menschlichen Kulturen gab?

Aus jener Zeit gibt es natürlich keine Dokumente. Aber: Die Natur hat zahlreiche Zeugen hinterlassen. Und die Wissenschaft hat Mittel und Wege gefunden, die Aussagen dieser Zeugen so zu interpretieren, dass sie sich zu zusammenhängenden Geschichten und Beschreibungen verbinden lassen. Solche Zeugen wurden auch in Winterthur gefunden. Zum Beispiel im Dättnau: Hier, im Talboden zwischen den Hängen von Chomberg und Ebnet, wurden schon im letzten Jahrhundert urzeitliche Bäume entdeckt. Es handelte sich überwiegend um Föhren, die Tausende von Jahren im Boden überdauerten und bei ihrer Ausgrabung vor etwas mehr als zwanzig Jahren erstaunlich gut erhalten waren – so gut, dass sie noch nach Harz rochen. Diese Föhren waren zusammen mit Birken Teil eines Waldes, der nach dem Rückzug der Gletscher den Talboden des Dättnaus bedeckte. Die Geschichte dieses Waldes gibt einen Einblick in einen winzigen Ausschnitt aus einer Zeit, in der die Winterthurer Landschaft und damit die Grundlage der Wälder geformt wurden. Und: Sie zeichnet ein Bild von der Entwicklung der damaligen Pflanzendecke und des damaligen Klimas.

Von der Abflussrinne zum Trockental

Die entscheidende Phase in der landschaftlichen Entwicklung des Dättnaus nahm vor etwa 18 000 Jahren ihren Anfang – mitten in der Würmeiszeit. Damals erreichten die Gletscher ihre maximale Ausdehnung. Das Gebiet der heutigen Stadt Winterthur lag unter den mächtigen Eismassen des Rhein-Bodensee-Gletschers. Von Süden und Südwesten her war gleichzeitig der Rhein-Linth-Gletscher bis gegen die Region Winterthur vorgestossen. Bei Brütten oder bei Rossberg mussten sich diese beiden Gletscher berührt haben. Als dann die Temperaturen stiegen und sich die Gletscher langsam zurückzuziehen begannen, wälzten sich ihre Schmelzwasserströme dem Eisrand entlang, flossen einstweilen zusammen und schürften tiefe Kerben in die Landschaft. Damals zog sich der Eisrand des Rhein-Bodensee-Gletschers von Eidberg-Iberg nach Sennhof und von dort aus dem Eschenberg entlang zur Steigmühle und schliesslich durchs Dättnau und Rumstal nach Pfungen ins untere Tösstal. Zu jener Zeit entstanden neue Schmelzwasser-Abflussrinnen: das Leisental und das Dättnau. Im Dättnau ritzte sich das Wasser 170 Meter tief in die Obere Süsswassermolasse ein. Erst als sich die Gletscher noch weiter zurückzogen, flossen die Schmelzwasserströme von der Steigmühle durchs Schlosstal über Wülflingen ins untere Tösstal. So entstand das heutige Flussbett der Töss, während das Dättnau und das Rumstal zu Trockentälern wurden. Als Überbleibsel der Gletscher blieb an den Hängen des Dättnaus vorerst Moränenmaterial liegen. Nach und nach rutschte es in den Talgrund ab, genauso wie Sandsteinstücke und Mergel aus der Molasse. Dadurch wurde das Dättnau wieder um sechzig Meter aufgefüllt. In den obersten Schichten dieser Auffüllung reicherten sich grosse Mengen Lehm an. Die oberste, etwa zehn Meter dicke Schicht des Dättnauer Talbodens besteht heute praktisch nur aus Lehm. Zwischen 1968 bis 1988 hatte die Firma Keller Ziegeleien in Pfungen diese Lehmvorkommen im grossen Stil abgebaut. Der Lehmabbau in einer Grube nördlich von Dättnau förderte denn auch die fossilen Föhren zutage, die vor etwa 10 000 Jahren im Dättnau wuchsen. Und bei genauerem Hinschauen tauchten noch weitere Urzeit-Relikte auf: Die Lehmschichten enthielten zum Beispiel auch Reste von Birken, die ebenfalls aus jener Zeit stammten. Diese Birken waren allerdings deutlich schlechter erhalten als die Föhren. Neben Birken- und Föhren-Stümpfen wurden in den Lehmschichten auch Astreste, Rindenstücke, Föhrenzapfen, Blütenstaub, Schneckenschalen und sogar Knochenteile von Wirbeltieren entdeckt. Die Betrachtung dieser Fundstücke ergibt ein recht genaues Bild dessen, was in jener Zeit geschah. Vor etwa 15 000 Jahren verliessen die Gletscher endgültig die Region Winterthur. Es dauerte noch mehr als 2000 Jahre, bis eine deutliche Erwärmung einsetzte. Dann aber breitete sich auf dem Talboden des Dättnaus – wie im ganzen Schweizer Mittelland – für eine kurze Zeit eine Kältesteppe mit Sträuchern wie Wacholder, Sanddorn und Wermut aus.

Birke als Pionierbaumart

In dieser frühesten nacheiszeitlichen Wärmephase vor etwa 12 400 Jahren wanderten auch die ersten Baumarten ein. Der erste Pionierbaum, der das Dättnau besiedelte, war die Birke. Kein Wunder, denn die Birke ist zwar lichthungrig, ansonsten aber extrem bescheiden in ihren Ansprüchen. Und vor allem: Sie ist der frosthärteste Laubbaum. In Skandinavien kann man deshalb reinen Birkenwäldern begegnen. Anders bei uns: Hier erscheint die schnellwachsende, silberweiss berindete Birke nur als Pionierart in Laubmischwäldern auf sauren, nährstoffarmen Böden, als Pionierbaum in subalpinen Nadelwäldern oder in nasssauren Hochmoorrandwäldern. Im Dättnau konnten sich die Birken als vorherrschende Baumart nicht lange halten, sie wurden bald von den Föhren ins Unterholz verdrängt. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts entwickelte die Föhre einen lichten Bestand – mit der Birke im Unterholz. Auch die Föhre ist extrem genügsam und besiedelt noch heute zahlreiche extreme und gegensätzliche Standorte, wo sie anderen Baumarten überlegen ist. So taucht die Föhre zum Beispiel sowohl auf trockenheissen Felskämmen als auch auf nass-sauren Frostmulden von Hochmooren auf. Ihrer Anpassungsfähigkeit verdankt die Föhre ihre weite Verbreitung: Sie ist heute die weitverbreiteste Baumart Eurasiens. Im späteiszeitlichen Wald im Dättnau tauchten neben Föhren und Birken vereinzelt auch Weiden auf. Der Wald wuchs wahrscheinlich nur auf dem geschützten, ökologisch günstigen Talboden, denn über die felsigen Hänge und Kuppen fegte stets ein eisiger, waldfeindlicher Wind. Der Birken-Föhrenwald im Dättnau starb schon bald wieder ab, denn vor etwa 10800 Jahren wurde es erneut kalt – nicht mehr so kalt allerdings, dass sich die Gletscher nochmals ins Mittelland hätten ausbreiten können. In dieser Phase entwickelte sich wiederum eine kältesteppenartige Vegetation, wie sie bei uns noch heute in den Bergen über der Waldgrenze vorkommt. Diese letzte Kaltphase dauerte nur etwa 800 Jahre, dann – vor etwa 10 000 Jahren – wurde das Klima zusehends waldfreundlicher. Wiederum wanderten Bäume ins Dättnau ein – zuerst Birken, dann Föhren.

Investition in die Natur

Auch diesmal konnte sich der Föhren-Birkenwald im Dättnau nicht lange halten, denn das Klima wurde bald so mild, dass sie den Buchen-Eichenmischwäldern, die vor etwa 9000 Jahren einwanderten, weichen mussten. In den rund zweitausend Jahren, in denen die Föhren und Birken zeitweilig das Dättnau besiedelten, wurden die Bäume durch Überschwemmungen und den bereits erwähnten Hanglehm teilweise einsedimentiert – das heisst: luftdicht in Lehm verpackt und damit für die Nachwelt konserviert.

Dank dieser Relikte aus der Späteiszeit konnten das damalige Klima und seine Veränderungen rekonstruiert werden. Die Fundstelle im Dättnau hat übrigens in Fachkreisen weltweit Beachtung gefunden. Nachdem in den siebziger Jahren der Lehmabbau abgeschlossen und die fossilen Bäume ausgegraben waren, entstand in der inzwischen wassergefüllten Grube allmählich ein Refugium für Amphibien, Vögel und Insekten. Deshalb wurde für die Lehmgrube Dättnau Ende der siebziger Jahre ein Naturschutzinventar erstellt; seit Anfang der achtziger Jahre gilt sie als Naturschutzobjekt von überregionaler Bedeutung. Durch einen Landabtausch Ende der achtziger Jahre kam die ehemalige Lehmgrube in den Besitz der Stadt Winterthur. Im Jahre 1992 liess die Stadt das Gebiet für fast eine halbe Million Franken umgestalten, um an diesem Ort bessere Lebensbedingungen für bedrohte Tier- und Pflanzenarten zu schaffen. Diese Investition zahlte sich für die Natur rasch aus: Innerhalb kurzer Zeit wanderten zahlreiche Tier- und Pflanzenarten ein – unter ihnen sogar einige Arten, die auf der Roten Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten stehen.

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